Claudia Betzin verwandelt den Raum mit den Mitteln der Malerei nicht nur in einen farbigen Raum, sondern in einen Farbraum, der den Betrachter fast allseitig umschließt. Die Farbe bestimmt das Raumklima und entwickelt mit ihrer allseitigen Gegenwart eine atmosphärische Präsenz, deren Stärke sich jedem, der diesen Raum betritt, als eigentümliche Kraft unmittelbar mitteilt.

Die einzelnen hochrechteckigen Leinwände sind gut mannshoch. und tragen eine neue, von den realen menschlichen Proportionen ausgehende Maßstäblichkeit in den hohen Raum. Dies ist wichtig für die Wahrnehmung, für die Akzeptanz der Installation. Die Breite der einzelnen Tafeln, die mit ihrer ungewöhnlichen Dicke ihre Körperlichkeit und damit zugleich ihre individuelle „Eigenständigkeit“ im familiären Kontext mit den anderen Tafeln betonen, variiert. In der Überzahl sind die schmalen Formate. Eine herausragende Stellung scheint hingegen jene große Tafel zu haben, die mit ausgebreiteten Armen nur knapp zu umfassen ist. Die einzelnen Tafeln, die übrigens auch in der Höhe leicht von einander abweichen, sind locker auf die Wände verteilt, wobei sie Abstand zu einander wahren. Der Rapport wird durch zwei Türöffnungen unterbrochen. Nur die Fensterwand bleibt gänzlich frei. Die Tafeln sind gemeinsam auf Unterkante gehängt, wodurch beiläufig ihre Zusammengehörigkeit konstatiert wird. Durch die Art und Weise, wie die Tafeln angeordnet sind, entstehen unterschiedliche Rhythmen, d. h. es gibt Partien der Verdichtung bzw. der „Beschleunigung“, wo die Abstände zwischen den einzelnen Teilen geringer werden und die weiße Wandfläche zu einem schmalen Spalt zusammenschrumpft und andere, wo sich die Distanzen dehnen, sich das Tempo verlangsamt und die weißen Zwischenräume als eigene „Bilder“ virulent zu werden beginnen.

Anders als beim traditionellen Tafelbild, hat der Betrachter, ganz gleich durch welche Tür er den Raum betritt, nicht die Möglichkeit, die gesamte Gemälde-Raum-Installation auf den ersten Blick vollständig zu erfassen. Immer bleiben neben oder auch hinter ihm weitere Teile der Arbeit zu entdecken. Er muß also, indem er seine Position im Raum verändert, seinen ersten Eindruck durch weitere „Einsichten“ ergänzen und korrigieren, bis er schließlich, nachdem er durch seine körperliche Eigenaktivität einen vollständigen Raumeindruck gewonnen hat, einen eigenen „Standpunkt“ beziehen kann.

Das Kreisen durch den Raum, für das die Investition von Zeit stillschweigende Voraussetzung ist, offenbart nach und nach seine Besonderheiten. Ganz gleich, von wo aus man ihn betritt, immer wird man zunächst vor der langen Wand mit ihren acht Leinwänden verweilen. Hier hin wird der Blick von der besonders starken Ausdehnung und vor allem von der Intensität der Farbe gerichtet. Hier ballen sich die Teile, ihre Größe und Dichte nehmen zu, ebenso aber auch die trennende Kraft der Intervalle. Und hier ist auch in farblicher Hinsicht fraglos der dramaturgische Höhepunkt eines womöglich zyklisch angelegten Bildgeschehens, das ohne Anfang und Ende um den Betrachter als Mittelpunkt kreist. Ein leuchtendes, aus einer trichterartigen Form hervorquillendes und sich wolkig verbreitendes Orange wird als energetisches Zentrum erlebt. Es bildet mit der schmalformatigen schwarz-grauen Tafel zu seiner Linken fast ein Quadrat und damit die kompakteste, standfesteste Form, eine Art Nukleus, von dem alles auszugehen scheint. Die Ausstrahlung des Orange erfaßt die nach rechts folgenden Tafeln mit unterschiedlicher Intensität, glüht noch einmal auf und erlischt schließlich in einem abgründigen Schwarz auf der am weitesten entfernten Tafel. Die Spur des in Schwarz getauchten Pinsels verbindet als horizontales graphisches Element diese Teile untereinander und macht in ihrem leicht abfallenden Verlauf, der sich auf den Tafeln der sich rechts anschließenden kurzen Wand fortsetzt, deutlich, daß die Reihenfolge der Tafeln nicht beliebig, sondern durch die Gesamtkomposition von vorne herein festgelegt war. Links von der Mitte und deutlich von ihr durch eine breite Zäsur abgesetzt, setzen drei weitere schmale Bildtafeln die Komposition fort. Hier geht es ruhiger zu. Es dominieren graue bis schwarze Farbflächen, die sich wie ein rauchiger Himmel von dem lichten, beigefarbenen Grund abheben.
Die gegenüberliegende, von einer Tür in der Mitte in zwei annähernd gleich lange Stücke geteilte Wand nimmt links drei schmale und rechts zwei Teile auf, von denen eines deutlich breiter ist. Die Palette hat sich nun beruhigt. Kühle Blau- und Grüntöne dominieren und stehen im Kontrast zu der „feurigen“ Wand auf der gegenüberliegenden Seite. Die Tür wird in diesem Fall als Zäsur einfach ignoriert, um die bildnerische Kontinuität zu wahren. Denn ohne Zweifel ist das Blau der Tafeln links dem Blau der Tafeln rechts zugehörig und sozusagen „aus einem Guß“.

Aus diesem sich in zarten Schleiern verströmenden Blau entwickelt sich ein von einem lichten Gelb durchflutetes Grün. Nach dieser durch ihre besondere Breite hervorgehobenen Tafel folgt gewissermaßen als Schlußpunkt eine schmale Tafel, deren farbige Definition noch offen scheint. Sandige Beigetöne bestimmen das Erscheinungsbild.

Die Farbe verbindet sich an vielen Stellen der Bilder mit einer sandigen, aufgespachtelten Grundierung, die, um den Keilrahmen herumgezogen, die Materialität und Dinghaftigkeit des Bildes und zugleich seine „Gewichtigkeit“ unterstreicht. Durch den Zusammenklang von erdiger Palette und ruppiger Faktur, die das Machen des Bildes als handwerklichen, schöpferischen Prozeß demonstrativ vor Augen führt, werden bestimmte Assoziationen geweckt. Man ist versucht, an erdgeschichtliche Vorgänge, an Eruptionen, Magma, Bildung von Land und Meer sowie die Entstehung ersten Lebens zu denken. Doch die Bilder von Claudia Betzin haben, wenn die Künstlerin auch schon für den Kirchenraum gearbeitet hat, keinen religiösen Hintergrund, allenfalls den, daß sie die ihr gegebenen schöpferischen Möglichkeiten auf der Leinwand offenbart. Sie geht von der Welt des Sichtbaren und Fühlbaren aus, für das sie intuitiv eine abstrakte Formensprache entwickelt. Ihrer inneren Eingebung folgend, bringt sie ihre Empfindungen und ihr Unterbewußtsein spontan auf die Leinwand. Sie läßt sich treiben, und das Bild wächst dabei gewissermaßen aus sich selbst heraus, wird zum eigenständigen Dialogpartner der Künstlerin. Bei diesem Dialog zwischen Werk und Produzent nimmt das Bild allmählich immer bestimmtere Konturen an, verfestigt sich, legt das Zufällige und Beliebige mehr und mehr ab, bis es schließlich ihr - so und nicht anders - als vollendet erscheint.

Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob die einzelnen Leinwände als selbständige Individuen zu sehen und damit mehr oder weniger beliebig zu einer Installation vergesellschaftet sind, oder ob sie die Teile eines Ganzen sind, die einem zuvor festgelegten Gesamtplan folgen. Wie verhalten sich die Teile zu diesem Ganzen? Was ist überhaupt das Ganze?

Eine erste Antwort auf diese Frage läßt sich aus der Atelierpraxis unmittelbar ableiten. Alle Teile der Arbeit haben im Atelier nebeneinander gestanden und sind gleichzeitig von der Künstlerin bearbeitet worden. Der „Generalplan“ hat also von Anfang an alle Teile umfaßt und diese als eine Einheit gesehen. Die über mehrere Tafeln hinweggehenden, die Komposition stark mittragenden schwarzen Linien bezeugen zusätzlich die von vorne herein gegebene Gesamtsicht der Dinge, wenn auch Einzelheiten wie in einem länger andauernden Reifeprozeß erst später bei der Arbeit hinzugekommen sein mögen. Die kompatiblen Anschlüsse der Farbflächen verweisen des weiteren auf die Einheitlichkeit des Konzeptes. Handelt es sich demnach um ein überdimensionales Polyptychon?

Bei der Beschreibung der Arbeit wurde davon ausgegangen, daß die vielen Teile eine Bildsequenz mit einer bestimmten Abfolge thematisieren. Wir sind dabei hauptsächlich der Gewichtung der Farben, ihrer Entwicklung vom Warmen zum Kalten, gefolgt. Doch diese Entwicklung wird eben nicht als eine kontinuierliche Geschichte referiert, sondern als Addition einzelner Schritte oder „Absätze“, zwischen denen längere „Pausen“ liegen oder die in dichter Reihung „rasch“ aufeinander folgen können. Dieses Abstandnehmen oder Atemholen, diese Rhythmisierung der Teile macht die Zeit als zusätzliche Dimension bewußt. Dehnen und Verdichten sind hier formale Metaphern für den Fluß der Zeit.

Die Teile haben, wie bereits dargelegt wurde, unterschiedliche Abmessungen in Höhe, Breite und Stärke. Sie kommen als zwar untereinander verwandte, aber doch autonome Individuen daher. Ihre Umrisse sind bestimmt durch die klare Geometrie des Rechtecks. Diese klaren Formen sind zu einer straffen Gesamtkonstruktion gefügt, die die ansonsten ausufernde, bisweilen explosive Ausdehnung der Farbkräfte bändigt, ordnet und hierarchisiert. Ordnung und Bestimmtheit sind gehorsame Kinder der Ratio. Sie treffen hier zusammen mit Ahnung und Gefühl, den unberechenbaren Sprößlingen der Intuition. Das macht die Arbeiten von Claudia Betzin spannend und reich.

Dr. Wolfgang Vomm

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