Paradigmatisch für das Verständnis der Arbeiten von Claudia Betzin ist eine Serie von Kohle/Kreidezeichnungen, die im Jahr 2004 entstanden sind. Ausgangspunkt war ein Aktmodell, dass durch zwei sich überlappende Plastikfolien gesehen wird.
Schemenhafte Gestalten erscheinen in einer Bildfläche, die von einer eigentümlichen Bewegung durchwirkt zu sein scheint und die sich gleichzeitig in unterschiedliche Bildräume teilt. Zuweilen trennen sich die Gestalten in eine obere und untere Hälfte, indem sie in ihrer Mitte wie von einem trägen Fluß auseinandergetrieben werden, der anderenorts wie eine schwere Wolke über sie hinwegzieht. Das Ineinander von Oberfläche und Tiefe, von Überdeckungen und Verwerfungen der unterschiedlichen Bildebenen, von Gestaltwerdung und Dekonstruktion des Raumes verwandelt das Bild in ein Zeit durchwirktes Diskontinuum, in dem sich der Blick verfängt. Erst nachdem der Blick ein Raumsegment durchdrungen hat, Schicht für Schicht abgetragen und erforscht hat und sich dabei die Erscheinung nach und nach in eine erste tentative Wahrnehmung eines möglichen Zusammenhangs verwandelt hat, kann er wieder aus dem Raum des Bildes hervortreten, damit sich im Abstand des Bildes im Zusammenspiel mit den anderen Raumsegmenten ein neues Gespinst von Raumbeziehungen entfalten kann, das es erneut zu durchforsten und zu erforschen ist. Sobald sich jedoch ein Beziehungsgefüge zu stabilisieren scheint, stößt der Blick auf einen Widerstand und versinkt oder scheitert an der Dichte des Bildes. Das vermeintliche Bildmotiv umkreisend, wird der Blick immer wieder in sich selbst und auf seine eigenen Projektionen zurückgeworfen, die sich zwischen ihn und das Bild schieben und erst der nächste Augenaufschlag befreit ihn aus dieser zeitweiligen Fixierung, bis der freigesetze Blick sich erneut im Bild verliert.

Das, was sich in diesem Rezeptionsvorgang der Bilder von Claudia Betzin entfaltet, ist nichts anderes als das Potential, das auch zu ihrer Entstehung führt. Nicht zufällig spricht die Künstlerin davon, dass sie sich ihre Leinwände vorbereiten muß, sie sich in einem ersten intuitiven zeichnerischen Wurf zurichtet und aneignet, der der Ausgangspunkt für alle weiteren Bildfindungen, Bildwerdungen und Bildverwerfungen ist. Nicht zufällig spielt dabei das Verfahren der Übermalung, des Wegnehmens, der Überdeckung, das auf die eine oder andere Weise in all ihren Arbeiten zu finden ist, eine entscheidende Rolle. Nicht zufällig ist das Umspielen von gegenständlichen oder landschaftlichen Assoziationen und Bedeutungshorizonten, die keine andere Bedeutung haben als die Distanz zu schaffen, die notwendig ist, damit man von etwas Abstand nehmen kann.

Der eigentümlichen Wechselwirkung zwischen Setzung, Erscheinung, Reflexion und Imagination bei der Bildgenese entspricht das Zusammenwirken von Erscheinung, Projektion, Reflexion und Wahrnehmung auf der Ebene der Rezeption. Das Entscheidende geschieht zwischen den Bildern - auf der Ebene der Produktion zwischen den einzelnen Zuständen des Bildes, auf der Ebene der Rezeption zwischen den einzelnen Phasen der Bildaneignung. Im Dazwischen verwandelt sich Ausdruck in Artikulation so wie aus Gesehenem Wahrgenommenes wird.

Nun mag dies auf den ersten Blick auf viele Bilder zutreffen, das Besondere an den Arbeiten von Claudia Betzin ist jedoch, dass sich in ihnen Wahrnehmungsformen von Bildern in Produktionsprozesse von Bildern verwandelt haben, indem sich die beiden Seiten des Bildes - seine Genese und seine Rezeption - unauflösbar miteinander verbinden. Die strikte Unterscheidung zwischen dem Standpunkt des Betrachters und dem Standpunkt der Künstlerin ist nicht länger möglich. Vielmehr nehmen beide im saltatorischen Wechsel beide Standpunkte gleichzeitig ein, was die Momente der Bildproduktion und der Bildrezeption dergestalt miteinander verschränkt, dass das eigentliche Bild im Zwischenraum dieser doppelten Zwiesprache entsteht.

Claudia Betzin gelingt es dabei, die mutmaßlichen Gegensätze über alle Trennungen hinweg zu verbinden, indem sie in ihrer Malerei den Gegensätzen Raum gibt, sich zu entfalten. Bewußt gesetzte Schnitte, Trennungen und Unterbrechungen thematisieren neben den atmosphärisch verdichteten, stark durchgearbeiteten Bildflächen immer wieder das Prozeßhafte ihrer Malerei, die in all ihrer Flüchtigkeit von einer beunruhigenden Körperlichkeit ist.

So wie kühle und warme Farbtöne in ihren Werken oft unvermittelt nebeneinanderstehen, zwei getrennte Bildflächen sich zum Bild ergänzen, so wie zeichnerische Elemente sich in Malerei verwandeln und vice versa, so wie Raum sich in der Zeit entfaltet und Zeit den Räumen eingeschrieben ist, so sorgfältig austariert und gleichzeitig unwägbar bewegt sich die Malerei von Claudia Betzin zwischen Prozeß und Einstand, zwischen Gegenständlichkeit und Abstraktion, zwischen Anmutung und Manifestation - ein unabschließbarer Dialog zwischen Gestalt und Gestaltung, in dem sich Malerei ereignet.

Karin Stempel

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